4. Dezember 2024

Bündnis: Am Anfang war BffE

Titelbild zum Artikel: Bunte Luftballons mit Briefen

2007 war Referendariat. 2007 waren volle Wartelisten. Und im Bereich der Sonderpädagogik vor allem die Aussichten auf eine Planstelle in den Fachrichtungen geistige und körperlich motorische Entwicklung aufgrund utopischer Einstellungsnoten aussichtslos. 2007 war Druck und es kam auf jede Stelle nach dem Komma an. Erhielt man keine Planstelle, gab es befristete Jahresverträge – aber nicht in der studierten Fachrichtung, sondern da wo Bedarf herrschte – also vor allem an den Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen und sozial-emotionale Entwicklung. Das führte unter Umständen dazu, dass man als Sonderschullehrkraft mit einem wesentlich besseren Schnitt an einer Schule mit einem Angestelltenvertrag unterrichten musste, und eine Lehrkraft mit einer anderen studierten Fachrichtung und wesentlich schlechterem Schnitt an gleicher Stelle verbeamtet wurde.

Verbände und Gewerkschaften

Gemeinsam mit Kolleg:innen gründeten wir das „Bündnis für faire und pädagogisch sinnvolle Einstellungspraxis„, gestalteten eine Homepage mit unserem Anliegen, mobilisierten GEWerkschaft und Lehrerverbände, Eltern und zahlreiche weitere Studienreferendar:innen, sammelten Unterschriften, organisierten gemeinsam mit den Fachschaften der Sonderpädagogik und der GEW, VdS, BLLV und BEV Aufklärungsveranstaltungen an den Universitäten in Würzburg und München und wurden dann in der Mehrheit mit befristeten Angestelltenverträgen abgespeist, trotz 1 vor dem Komma.

In der Juliausgabe der Mitgliederzeitschrift der GEW Bayern DDS und in der Märzausgabe der vds veröffentlichte ich den Artikel „Bye Bye Bayern – junge Sonderpädagog:innen in Bayern auf dem Abstellgleis?“ zum Thema.

Junge Sonderpädagog:innen in Bayern auf dem Abstellgleis?

Wer am 19. Mai 2009 um ca. 20.00 Uhr in Würzburg aus dem Fenster sah, konnte am Himmel viele bunte Luftballons sehen. An ihnen waren Postkarten befestigt mit der Aufschrift:

»Stelle gesucht! Motivierte Sonderpädagogen suchen ein faires, dauerhaftes Jobangebot irgendwo in Deutschland. Wir sind topqualifiziert, flexibel, belastbar und allzeit bereit. Bei guter Pflege bleiben wir bis zum Ruhestand.«

Auf diese Weise machte das Bündnis für faire und pädagogisch sinnvolle Einstellungspraxis (BffE) auf eine Einstellungspolitik im Bereich der Förderschulen aufmerksam, die seit Jahren eigentlich nur ein Ziel verfolgt: Der Freistaat Bayern spart Geld, indem er teuer und gut ausgebildete und dringend benötigte Sonderpädagog:innen in großer Zahl mit befristeten Jahresverträgen abspeist. Die Zeit, in der auf alle eine Planstelle wartete, ist lange vorbei.

Der Luftballonaktion vorausgegangen waren zwei Veranstaltungen an den sonderpädagogischen Fakultäten in München und Würzburg, die gemeinsam vom BffE und den Fachschaften der Sonderpädagogik mit Unterstützung von GEW, VdS, BLLV und BEV organisiert und von ca. 400 Student:innen der Sonderpädagogik besucht wurden. Diese zeigten großes Interesse und waren teilweise schockiert von den Berichten der äußerst kompetenten Referent:innen, mit denen die derzeit in Bayern praktizierte Einstellungspolitik und deren negative Folgen aufgezeigt wurde.

Die wesentlichen Probleme von Einstellungspraxis und Arbeitsbedingungen sollen im Folgenden kurz beschrieben werden.

Bildungsland Bayern? Nicht für alle!

Laut »Dokumentation 185 – April 2008: Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997-2006« der Kultusministerkonferenz belegt Bayern bei den Förderschulen im Bundesländervergleich, im Gegensatz zur PISA-Studie, nur die hinteren Plätze. Bayern hat die größten Klassen (11,2 SchülerInnen) und auf jede Förderschullehrkraft treffen die meisten Schüler:innen (7,7). Im Vergleich dazu liegt Spitzenreiter Baden-Württemberg hier mit 4,9 Schüler:innen je Lehrerkraft weit vorn. An Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist eine drei- bis vierfache Klassenführung keine Seltenheit.

Doch statt mit mehr Einstellungen dafür zu sorgen, dass die Klassen kleiner werden, konfrontiert Bayern junge und motivierte Sonderpädagog:innen mit beinahe utopischen Einstellungsnoten: In den Fachrichtungen Geistigbehindertenpädagogik und Körperbehindertenpädagogik wurde zum Schuljahr 2008/09 bis zu einer Staatsnote von 1,43 verbeamtet. Wer z. B. als Körperbehindertenpädagogin oder -pädagoge eine Note schlechter als 1,82 hatte, bekam gar kein staatliches Angebot mehr und konnte sich nur im Privatschulbereich eine Beschäftigung suchen. Auch in allen anderen Fachrichtungen wurden die Einstellungsnoten in den letzten Jahren drastisch angehoben. Eine große Zahl der Berufsanfänger:innen wurde mit befristeten staatlichen Jahresverträgen abgespeist und fachfremd eingesetzt. Von 251 Neubewerber:innen wurden nur 86 Junglehrer:innen direkt verbeamtet oder erhielten Angestelltenverträge mit Zusage zur Verbeamtung.

Solch schlechte Zukunftsaussichten veränderten in den letzten Jahren bereits erheblich das Klima unter Studierenden und Studienreferendar:innen der Sonderpädagogik. Der Notendruck ist extrem gestiegen, somit auch die Anforderungen und das Konkurrenzdenken innerhalb der Seminare. Wer keine Planstelle erhält, wird auf einer für fünf Jahre begrenzten Warteliste platziert. Von dort aus kann man sich jedes Jahr erneut für den staatlichen Schuldienst bewerben. 1999 waren es noch 18 Bewerber:innen, die dort auf eine dauerhafte Beschäftigung warteten. Heute sieht die Warteliste anders aus. Laut letztem Stand (Februar 2009) warten 545 Bewerber:innen auf eine Planstelle.

Allein im Schuljahr 2008/2009 fanden sich 186 neue Bewerber:innen auf der Warteliste wieder (Quelle: KM Bayern).
Absurd: Selbst wer fünf Jahre lang fachfremd eingesetzt war, wird immer nur nach seiner studierten Fachrichtung beurteilt.
Also: Sonderpädagog:innen der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik, die fünf Jahre lang an einem Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen arbeiten, werden nicht verbeamtet, weil ihre Staatsnote der Sprachbehindertenpädagogik nicht für eine Planstelle reicht.

Kann es sich Bayern leisten, nur die Besten der Besten mit zukunftssicheren Planstellen auszustatten? Müssen Sonderschullehrer:innen bei einer derartig repressiven Einstellungspolitik nicht froh sein, überhaupt einen Job zu bekommen? Weit gefehlt! In Bayern gibt es keine arbeitslosen Sonderschullehrer:innen. Im Gegenteil: Junge und gut ausgebildete Sonderschullehrer:innen werden dringend zur Aufrechterhaltung des Status quo gebraucht. Dort, wo sie fehlen, werden jedes Jahr Grund- und Hauptschullehrer:innen eingesetzt, sogar Absolvent:innen der Sonderpädagogik mit Erstem Staatsexamen gehen als Vertretungen in den Schuldienst. Warum? Die Antwort ist einfach: Bayern spart sich sehr viel Geld im Bereich der sonderpädagogischen Förderung – mit schlimmen Folgen.

Weitreichende Folgen der Einstellungspolitik für alle Beteiligten

Es ist evident, dass diese Praxis für die betroffenen Lehrkräfte schwerwiegende negative Auswirkungen hat. Die Verunsicherung durch prekäre und stets nur befristete Arbeitsverhältnisse wird noch durch die Begrenzung dieses Zustands auf fünf Jahre und die Ungewissheit, wie es danach weitergeht, verstärkt. Jahr für Jahr bangen betroffene Lehrer:innen darum, überhaupt eine Anstellung zu bekommen. Dauerhafte Lebensperspektive und -planung ist unmöglich. Die gesetzliche Regelung befristeter Verträge (Stichwort: Kettenverträge) erzwingt darüber hinaus häufige Schulwechsel, was in einigen Fällen zu kostspieligen Wohnortwechseln in kurzer Zeit führt. Sich immer wieder in völlig neue Schul- und Klassensituationen einarbeiten zu müssen, entwertet das mühsam erarbeitete Wissen um die spezifische Schulsituation, die besondere Schüler:innenpopulation und die jeweiligen Schulausstattungen. Hinzu kommt ein finanzielles Minus von bis zu 700 Euro pro Monat bei gleicher Tätigkeit im Vergleich zu den verbeamteten Kolleg:innen.

Neben der existenziellen Unsicherheit für junge Lehrkräfte ergeben sich aber vor allem negative Folgen für Schüler:innen, Eltern und Schulen. Die mit viel Engagement aufgebauten Kontakte zu den Eltern, das Wissen über familiäre Hintergründe, die zu einem besseren Verständnis für Schüler:innenpersönlichkeiten und problematische Verhaltensweisen führen, sind häufig bereits nach einem Jahr wieder nutzlos. Eltern werden in kurzer Zeit mit verschiedenen Ansprechpartner:innen konfrontiert, der gemeinsame Bildungs- und Erziehungsauftrag ist unter diesen Umständen schwer bis kaum zu verwirklichen.

Ganz besonders für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben ständige Lehrer:innenwechsel negative Konsequenzen für Motivation und Lernerfolg. Mühsam entwickelte Vertrauensverhältnisse werden für die weitere pädagogische Arbeit bereits nach einem Jahr wertlos und hinterlassen in mancher Schülerin/manchem Schüler seelische Narben. Der neuen Lehrkraft begegnen sie häufig erst einmal mit Frustration und Misstrauen. Die fehlende Kontinuität hat damit zwangsläufig auch negative Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität.

Aber auch auf die Kollegien wirkt sich dieser Zustand unerfreulich aus. Sie sind nicht nur ständig gezwungen, neue Kolleg:innen einzuarbeiten, diese können auch nicht sinnvoll mit längerfristig für den Schulbetrieb erforderlichen Funktionen betraut werden.

Die viel gerühmte und teure Evaluation wird bei ständig neu gemischten Kollegien vollends zur Farce. Schulentwicklung und Schulprofile lassen sich unter diesen Bedingungen schwer bis gar nicht umsetzen. Schulleiter:innen haben keine Möglichkeit, langfristig zu planen, sondern sind gezwungen, jedes Jahr aufs Neue auf die Stundenzuweisungen zu reagieren. Da werden AGs gestrichen, Zusatzangebote eingestellt und die Klassen im Krankheitsfall einer Lehrkraft aufgeteilt. In den Statistiken erscheint das nicht als »ausgefallener Unterricht«. Hauptsache das Stundenmaß ist erfüllt. Irgendwie.

Inklusive Bildung als Sparprogramm?

Nachdem Deutschland trotz Bildungshoheit der Länder die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert hat, verpflichtet es sich zu einem inklusiven Schulsystem. Das allgemeine Bildungssystem soll sich so entwickeln, dass Menschen mit Behinderungen am individuellen Bedarf orientiert die notwendige Unterstützung erhalten, damit sie sich mit ihren Fähigkeiten voll entfalten und tatsächlich an der Gesellschaft teilhaben können. In der Presse wurde in letzter Zeit vermehrt die Qualität der Sonder- oder Förderschule in Frage gestellt. Nicht zuletzt der Artikel »Die unverdünnte Hölle« im Spiegel verärgerte durch ein extrem einseitiges und abwertendes Bild der Arbeit an den Förderschulen auch sehr viele Sonderpädagog:innen in Bayern. In Bayern kommt da schnell der Verdacht auf, dass die Arbeit an den Förderschulen in ein schlechtes Licht gerückt werden soll, um die repressive Einstellungspolitik beizubehalten und sogar noch zu verschärfen. Der Gedanke, dass man in einem Schulsystem, in dem jede Schülerin/jeder Schüler inklusiv unterrichtet werden kann, keine Sonder- oder Förderschulen und damit natürlich auch keine Sonderpädagog:innen mehr braucht, liegt nahe.

Besonders ein inklusives Schulsystem aber wird ohne eine ausreichende Anzahl gut ausgebildeter und motivierter Sonderpädagog:innen nicht funktionieren können!

An den sonderpädagogischen Fakultäten der Universitäten in München und Würzburg werden seit Jahren die neuesten pädagogischen Ansätze gelehrt und reflektiert. Der Großteil des Studiums der Sonderpädagogik befasst sich mit Pädagogik und Ethik. Unter den Studierenden der Sonderpädagogik wird der Begriff der »Inklusion« bereits heftig diskutiert und die Schule von morgen skizziert. Sonderpädagog:innen haben den Auftrag, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen zur vollständigen Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Bestmögliche Förderung eines jeden Kindes ist in einem inklusiven Schulsystem nur in Kooperation mit der Sonderpädagogik möglich. Eine Zusatzqualifikation in Form eines sonderpädagogischen Pflichtscheines für alle Lehramtsstudierenden reicht da bei Weitem nicht aus. Wer glaubt, Inklusion mit Einsparung der »teuren« Sonderpädagog:innen verwirklichen zu können, hat sich entweder mit der Thematik noch nicht ausreichend auseinandergesetzt oder versucht, schulische Sparprogramme hinter dem wohlklingenden Etikett »Inklusion« zu verstecken. Vor allem in Zeiten der bildungspolitischen Inklusionsdebatte sind sonderpädagogische Kompetenzen an allen Schularten unabdingbar.

Bye-bye Bayern?

Etliche der jungen Sonderpädagog:innen haben Bayern aufgrund der skizzierten Arbeitsbedingungen bereits den Rücken gekehrt, denn sie werden auch in anderen Bundesländern gerne gesehen. Mittlerweile werben vor allem Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen mit kleineren Klassen und Planstellen oder zumindest zeitnaher Verbeamtung. Man kennt dort die gute Qualität der bayerischen Ausbildung. Dass dabei nur eine Fachrichtung grundlegend studiert wird, stört die anderen Kultusministerien nicht. Genaue Informationen über Bewerbungsmöglichkeiten und Berufsaussichten in den Bundesländern sind auf www.sopaed.net unter »Info« zu finden.

Aktiv werden in Bayern mit BffE!

Doch Ziel von BffE ist es nicht, dass junge Sonderpädagog:innenen ihre Zukunft in anderen Bundesländern suchen. Das Motto der Veranstaltungen lautete »Aktiv werden für eine faire und pädagogisch sinnvolle Einstellungspraxis in Bayern!«. Denn Bayern ist schön und Sonderpädagog:innen werden dringend gebraucht. In Mittelfranken formierte sich bereits im Herbst 2007 ein Bündnis aus Fachgruppen von GEW, BLLV, NLLV, dem VdS, VertreterInnen aus Elternverbänden, betroffenen Studienreferendar:innen und Lehrer:innen, das durch die Forderung nach mehr Planstellen eine spürbare Verbesserung der Situation zu erreichen versuchte. (Die DDS berichtete darüber.) Ein Erfolg ist bisher nicht messbar, die Einstellungsnoten verschärften sich sogar noch. Auch die eingebrachten Petitionen wurden im Landtag abgelehnt.

Aber mittlerweile erfährt das BffE landesweite Unterstützung für seine Forderungen: Faire Einstellungspraxis bedeutet, junge und vor allem dringend benötigte Sonderpädagog:innen mit zukunftssicheren Arbeitsverträgen auszustatten und die sinnlose Vergabe der befristeten Jahresverträge zu beenden. Außerdem sollte langjähriger fachfremder Einsatz und der damit verbundene Kompetenzerwerb in einer anderen Fachrichtung honoriert und bei der Vergabe der Planstellen berücksichtigt werden. Zusätzlich setzt sich das Bündnis für eine Betonung der sonderpädagogischen Kompetenz in der Inklusionsdebatte unter dem Motto »Keine Inklusion ohne Sonderpädagogik!« ein.

Mit Hilfe der zentralen Anlaufstelle www.sopaed.net im Internet sollen vor allem Betroffene selbst die Möglichkeit erhalten, aktiv zu werden und die Arbeit und Aktionen des Bündnisses auf ganz Bayern auszuweiten. Interessent:innen und Unterstützer:innen sind gerne eingeladen, sich in die Mailingliste auf der Homepage einzutragen.

Am Anfang sind es Luftballons…

Die ersten Reaktionen auf die Infoveranstaltungen in München und Würzburg waren durchweg positiv. Die Zusammenarbeit mit den Fachschaften der Sonderpädagogik soll fortgesetzt werden und die nächsten Aktionen sind bereits in Planung.

Es ist an der Zeit, die Arbeitsbedingungen für SonderpädagogInnen in Bayern zu verbessern und die Zweiklassengesellschaft in den Kollegien aus Beamt:innen und Vertragssonderschullehrer:innen zu beenden, denn sehr schnell können aus Postkarten an Luftballons Bewerbungsschreiben in andere Bundesländer werden, die die Arbeit von Sonderpädagog:innen noch wertschätzen.

Florian Kohl, 2009
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