5. Oktober 2024

Der Weg aus der Sackgasse?

Titelbild des Artikels "Der Weg aus der Sackgasse"

Ich veröffentlichte nach einem Gespräch mit meiner Frau über die Aussichten in dieser Pandemie letzte Woche einen Beitrag auf Twitter, der einen Punkt traf. Innerhalb weniger Tage erreichte der Tweet über 9000 Menschen. Ich stellte die Behauptung auf, dass wir gerade erlebten, wie eine ganze Nation aufgrund der andauernden Einschränkungen im privaten Bereich psychisch krank werden würde. Zugegeben, etwas überspitzt formuliert, aber: Menschen brauchen dringend Möglichkeiten, sich psychisch erholen zu können. Gibt es die nicht, fehlt die Kraft, notwendige Maßnahmen im Kampf gegen Corona einzuhalten. Zudem führen wissenschaftlich nicht haltbare Maßnahmen zu immer mehr Ablehnung innerhalb der Bevölkerung.
Ausschlaggebend für die Gedanken war der offene Brief einiger namhafter Aerosolforscher, der einige politische Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung kritisierte.

Spazierengehen? Bitte nicht!

Es fällt mir in letzter Zeit selbst schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Ich fühle mich aus den angesprochenen Gründen ausgelaugt. Mir fehlen der Fußballplatz, das Fußballtraining mit meiner Jugendmannschaft, Begegnungen mit Freunden und Kolleg*innen und ich sehe, dass die Situation vor allem meinen Kindern trotz Garten und tollen Verhältnissen immer mehr zusetzt. Zwei meiner Kinder waren seit 5 Monaten nicht mehr in der Schule oder im Kindergarten. Spazierengehen verkommt zum Unwort. Und das Infektionsgeschehen wird trotz der Maßnahmen nicht geringer. Frustrierend ist das, was Kollege Tobias Schreiner in seinem Blog als „circle of ignorance“ bezeichnet. Es ist bezeichnend für die letzten 13 Monate Pandemiebekämpfung in Deutschland und ich wage zu behaupten, dass es uns da hingebracht hat wo wir jetzt sind: In einer Sackgasse.

Circle of Ignorance
Tobias Schreiners circle of ignorance

Wie man Vertrauen verspielt…

Zugegeben, ich bin mehr auf social media unterwegs als wahrscheinlich gesund ist – aber wenn man seine Bubble verlässt, spürt man hier die Stimmung vieler Menschen sehr direkt und ohne Schleier. Und die sinkt in den letzten Wochen doch massiv. Einer meiner Gradmesser: Die Anzahl der Lachsmileys unter Warnungen von Virolog*innen oder Intensivmediziner*innen. Dabei sind es im Verhältnis immer nur sehr wenige Menschen, die einen Mangel an Empathie erkennen lassen – dafür aber meist sehr laut. Das spiegelt sich auch in der Realität wieder, wie ich in einem früheren Blogbeitrag zum Verhalten vieler Demonstranten geschildert habe.

David Biesinger aus der Tagesschau spricht zum Gedenken an die Corona -Toten und 235 Menschen klicken den Lachsmiley
Smileys unter einem Beitrag zum Gedenken der Corona-Toten

Ich habe das Gefühl, dass wir neben der Pandemie ein weiteres gravierendes Problem haben, das sich mit Corona weiter zuspitzt. Es geht um fehlendes Vertrauen: In die Politik, in die Wissenschaft, in die Medien. Man lacht aus der Position des vermeintlich Erwachten über denjenigen, der immer noch das „Märchen“ von Corona glaubt. Politik tut kaum etwas dazu, das Vertrauen zu stärken oder wiederzugewinnen. Im Gegenteil. Anstatt sich einig und geschlossen gegen die Pandemie zu wenden, wurstelt jedes Bundesland für sich herum. Entscheidungsträger debattieren nächtelang, um zu nicht wirkungsvollen Entscheidungen zu kommen. Als Beispiel: Am 22.03. tagten die Entscheidungsträger der Länder mit Bundeskanzlerin Merkel – stundenlang. Die Beschlüsse sind nun vier Wochen alt – wenn sie zum Ziel hatten, das Infektionsgeschehen zu senken, haben sie nichts bewirkt. Aber anstatt dass andere Konzepte ins Spiel gebracht werden, wirkt es weiterhin so, als würden die Bundesländer untereinander in Konkurrenz stehen und um den größtmöglichen Vorteil kämpfen. Den haben so manche Politiker persönlich für sich entdeckt – Stichwort Maskenaffäre. Im Superwahljahr scheint für viele der Blick auf die Umfragewerte wichtiger geworden zu sein als der Blick in die Krankenhäuser. Und die füllen sich bekanntlich analog zur Steigerung der Inzidenzzahlen. Draußen heißt es weiterhin: Wer öffnet am schnellsten und lächelt dabei am nettesten in die Kamera.

Die Last liegt auf Familien, Kindern und Beschäftigten in systemrelevanten Berufen

Meme Schulschließung
Auf-Zu-Auf-Zu-Normalität

Menschen nehmen wahr, dass die Einschränkungen vor allem das Privatleben und den Bildungsbereich betreffen und kaum den erwünschen Effekt zu haben scheinen. In Kindergärten und Schulen existieren Masken- und Testpflicht, dafür keine Luftreiniger. Trotzdem werden die Einrichtungen in schöner Regelmäßigkeit geöffnet und geschlossen, arbeiten Beschäftigte immer noch größtenteils unter arbeitsschutzrechtlich zweifelhaften Bedingungen, während Menschen seit Beginn der Pandemie jeden Morgen in den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Produktionsstätten transportiert werden. Eine Home-Office-Pflicht gibt es nicht und Arbeitnehmer*innen muss nur ein Testangebot gemacht werden. Wissenschaftler zweifeln zudem die Wirksamkeit der FFP2-Maskenpflicht im öffentlichen Raum stark an. Arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen im Umgang mit den Masken können nicht eingehalten werden. Dafür sind Minigolfanlagen und andere Freizeitanlagen im Freien geschlossen und ab 21 Uhr darf man ab einer bestimmten und immer wieder diskutierten Inzidenz seine Wohnung nicht mehr verlassen. Nach 13 Monaten föderalem Chaos möchte die Kanzlerin dann aber doch ein Machtwort sprechen und bringt die Corona-Notbremse ins Spiel, die dem Bund mehr Durchgriffsrechte auf Länderebene verschaffen soll. Sie wird seit Wochen diskutiert, weil sich Widerstand in den Ländern regt und viele Punkte ausführlich diskutiert werden müssen. Beinahe schon witzig: Der neue Grenzwert für die Schließung der Schulen soll bei Inzidenz 165 liegen. Anfang der Woche lag der bundesweite Inzidenzwert bei 165. Mit wissenschaftlicher Evidenz hat das nichts zu tun. Derweil organisieren die entsprechenden Lager bereits die nächsten Demos, auf denen es mittlerweile auch zum guten Ton zu gehören scheint, Pressevertreter körperlich anzugehen.

Resultat: Deutschland rutscht auf der Rangliste der Pressefreiheit ab.

Man muss es deutlich sagen. Ein immer mehr von dem, was augenscheinlich nicht funktioniert, gepaart mit Maßnahmen, die man getrost als politischen Aktionismus (Stichwort Maskenpflicht beim Joggen) bezeichnen darf, schafft Frustration, Verärgerung, Verzweiflung, Überlastung und vor allem Zweifel am Kurs selbst.

…und wem das verspielte Vertrauen nutzt

Es regt sich Widerstand. Familiengerichte, die die Maskenpflicht aushebeln, Anwaltskanzleien, die gegen die Testpflicht klagen, Eltern, die Lehrkräfte angehen und vor Schulen demonstrieren, Demonstrationen und viele Menschen, die die Coronapolitik nicht mehr nachvollziehen können. Nun kann man es sich einfach machen. Schublade „Querdenker“ auf und alles da rein. Das scheint mir aber zu einfach. Es ist legitim, den Kurs der Regierungen zu verurteilen und zu kritisieren. Doch fehlendes Vertrauen und Zweifel sind ein gefundenes Fressen für Menschen, die sich längst in anderen Realitäten bewegen. Sie empfangen die Zweifler mit offenen Armen, liefern die Erklärungen und bieten Aktionismus in Form von organisierten Demonstrationen oder Petitionen. In digitalen Organisationsstrukturen wie Telegram und Co fühlt man sich sofort unter vermeintlich Gleichgesinnten. Und so marschieren Menschen, die sich selbst als bürgerliche Mitte bezeichnen, neben Deutschland- und Reichskriegsflaggen und tolerieren Aufrufe zur Gewalt und Relativierungen des Holocaust. Drosten neben Mengele, Drosten in KZ-Kleidung, Judensterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“, die „Merkel-Diktatur“, Morddrohungen gegen Politiker usw.

Der Weg aus der Sackgasse?

EIne Sackgasse bietet keinen Ausweg. Man kann nur umdrehen und einen anderen Weg wählen. Die Strategie der Regierung ist, so schnell wie möglich alle Menschen zu impfen und den Weg bis dahin irgendwie zu schaukeln, wobei sich das Schaukeln auf möglichst wenig Tote und Langzeiterkrankte bezieht. Das Kriterium der zur Verfügung stehenden Intensivplätze in den Kliniken wird immer wieder als Argument in die Debatte eingebracht. So lange es genug Plätze gäbe, wären viele der Maßnahmen unverhältnismäßig. Mich widert diese Argumentation an, weil sie letztendlich Tote und Erkrankte in Kauf nimmt, die man anderweitig auch verhindern könnte. Das mag für mich eine moralische Sackgasse bedeuten, aber ich kann das nicht ändern. Was ich sehe: Nach 13 Monaten sind meine Schüler*innen nicht im Präsenzunterricht und können keine wichtigen Praktika machen. Meine Kinder spielen kein Fußball und treffen sich nur sporadisch mit ihren Freunden. Jeder Besuch bei meinen Eltern ist ein Risiko. Und auch wenn das Impftempo endlich Fahrt aufnimmt: Es ist unsicher, sich nur auf die Impfung zu verlassen, denn die nächsten Mutationen warten bereits. Seit Monaten wird eine Gruppe von Wissenschaftler*innen nicht müde, einen europaweiten Weg anzumahnen. Ihr „Aktionsplan für einen europaweit koordiinierten Schutz vor neuen SARS-Cov2-Varianten“ beschreibt das Dilemma: Man lässt das Virus ausreichend gewähren, es entstehen neue Mutationen, die Maßnahmen passen nicht mehr und so steuert man von Welle zu Welle. Der Aktionsplan beschreibt meiner Meinung nach außerordentlich deutlich, was gerade passiert („Pandemiemüdigkeit“) und bestätigt den „circle of ignorance“. Der vorgeschlagene Weg: Infektionszahlen radikal eindämmen, Testen, Nachverfolgen, Isolieren, Unterstützen.

The Swiss Cheese Pandemic Defence
Quelle: https://www.containcovid-pan.eu/statement/variants/German

Fazit

Ich diskutiere nicht mehr mit Menschen über den Sinn oder Unsinn der Inzidenzzahlen. Ich bin kein Experte in diesem Gebiet. Was ich aber verstehe: Wenn Inzidenzzahlen das Kriterium sind, um Leben wieder mit Leben zu füllen, dann müssen sie runter. Sprich – es benötigt einen Lockdown, der alle gesellschaftlichen Bereiche einbezieht, um die Infektionszahlen drastisch zu senken. Gesundheitsämter müssen in der Lage sein, Kontakte nachzuverfolgen, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus dadurch zu verhindern. Der oben geschilderte Aktionsplan bietet eine Alternative. Menschen benötigen dringend Perspektiven, die über das Impfen hinausgehen. Denn nicht alle Menschen können oder wollen geimpft werden und Kinder stehen noch lange nicht auf der Liste. Ein viel zu großer Teil der Bevölkerung gehört außerdem der Risikogruppe an. Ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus und die Zusammenarbeit mindestens auf europäischer Ebene sind seit Beginn der Pandemie notwendig. Zudem würde dieser Blick helfen zu verstehen, was in Ländern mit extrem niedrigen Inzidenzen wie Finnland, Portugal oder Südkorea in den letzten Monaten passiert ist.

Einen für mich verständlichen generellen Ausblick hat Mai Lab bereits vor 2 Monaten auf ihrem Youtube-Kanal geliefert.
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