19. März 2024

Kinder zu Experten ihrer selbst machen – Gedanken am internationalen Kindertag

Internationaler Kindertag 2021

Heute ist internationaler Kindertag. Der soll auf die Rechte und Bedürfnisse von Kindern aufmerksam machen.


Kinder suchen es sich nicht aus, auf die Welt zu kommen. Sie werden geboren und haben keinerlei Einfluß auf ihre Startbedingungen. Sie sind darauf angewiesen, dass Menschen ihre Bedürfnisse erkennen und befriedigen. Lernen findet dabei vom ersten Tag ihres Lebens statt. Jede gemachte Erfahrung führt zu Verküpfungen im jungen Gehirn, führt zur Vernetzung mit vorherigen Erfahrungen, und jede Erfahrung der Selbstwirksamkeit beeinflusst die kleine wachsende Persönlichkeit. Mit Geräuschen, Bewegungen und Blicken müssen Kinder von Anfang an lernen, ihre Umwelt zu lenken und zu gestalten.


Sie sind dabei angewiesen auf Bezugspersonen, die die biologischen Grundlagen des heranwachsenden menschlichen Wesens kennen. Aufziehende müssen neben den Basics zu Ernährung und Pflege wissen: Was braucht mein Kind, damit es seine Fähgkeiten optimal ausbilden kann? Wie gestalte ich die Beziehung zum Kind? Wie lernt das kleine menschliche Wesen und welche Bedingungen sind förderlich für die motorische, die sprachliche und die psychosoziale Entwicklung? Menschen müssen Experten ihrer selbst sein, um ihrem Nachwuchs die Umgebung zu bieten, in der er sich optimal entfalten kann.


In der Realität muss ein Kind Glück haben, in ein Umfeld geboren zu werden, das diese Voraussetzungen bietet. Liebevolle Eltern ohne Existenzängste, die genug Zeit zum Spielen, Kuscheln und Vorlesen mitbringen. Und neben vielen förderlichen Reizen, die das Kind wunderbar gedeihen lassen, auch die notwendige Geduld und Gelassenheit. Erziehungsratgeber hier, Gespräche mit der Peer-Group da. Es kann kaum noch etwas schiefgehen. Das Kind wird in den Kindergarten kommen und nicht auffällig sein, es wird die vier Jahre der Grundschule meistern, eine weiterführende Schule besuchen, in einem Sportverein aktiv sein, ein Instrument erlernen und mit der notwendigen Unterstützung durch das Elternhaus einen hochwertigen Abschluss machen. Vielleicht selbst nach den ersten beruflichen Erfolgen eine Familie gründen, von den mitgegebenen Kompetenzen profitieren und vielleicht auch die eigenen Kinder wieder davon profitieren lassen.


Wenn ein Kind aber nicht das Glück hat, in so ein Umfeld geboren zu werden, wird es um einiges schwieriger. Menschen, die in der Öffentlichkeit als „bildungsfern“ bezeichnet werden, oder als „sozial schwach“ oder „sozial benachteiligt“, sind oft nicht in der Lage, annähernd vergleichbare förderliche Bedingungen für den eigenen Nachwuchs herzustellen, weil die eigene Lebenslage neben den fehlenden Rahmenbedingungen auch viele psychosoziale Belastungen mit sich bringt. Selten können die Menschen auf erfolgreiche Bildungskarrieren zurückblicken. Sie haben sich in ihrer Schulzeit mit verschiedenen Fächern herumgeschlagen und vor allem erlebt, weniger zu können als andere. Trotz ihrer Bemühungen stand nie ein Platz an der Sonne in Aussicht, mit Einfamilienhäuschen, Garten und Urlaub. Wenn sie Arbeit haben, ist die oft eintönig, schlecht bezahlt und alles andere als sicher. Gewohnt wird in Mietswohnungen, für die ein Großteil des Lohns draufgeht. Einen Erziehungsratgeber wird man hier nur selten vorfinden.


Die Lebenslage eines Kindes bestimmt seine Entwicklungsbedingungen und seine Verwirklichungschancen. Kommen die beiden skizzierten Kinder in den Kindergarten, sind die Unterschiede in der Regel enorm und für das zweite Kind trotz Förderversuche im vorschulischen Bereich kaum noch aufzuholen.


Wenn Lehrkräfte in der ersten Klasse bereits nach wenigen Wochen Prognosen über die bevorstehende Schulkarriere bestimmter Kinder machen können, und diese Prognosen viel zu oft auch noch zutreffen, muss sich unser Bildungssystem den Vorwurf gefallen lassen, diese Kinder zu benachteiligen. Es muss sich den Vorwurf gefallen lassen, gesellschaftliche Missstände und letztendlich Klassen zu reproduzieren. Wer arm ist, bleibt in der Regel arm und hat kaum Chancen, seine Lebensumstände zu verbessern. Anstatt Kinder individuell zu fördern, konfrontiert man sie Jahre lang mit der Erfahrung des Nicht-Genügens – oder schiebt sie in eine Förderschule ab, aus der es kaum ein Zurück gibt.


Unser Bildungssystem bevorzugt die Reichen und sortiert von Beginn an Kinder aus, die nichts für ihre benachteiligten Verhältnisse können. Es gibt zig Studien, die den Zusammenhang zwischen schulischem Erfolg und sozialer Herkunft belegen. Seit Jahrzehnten. Doch wir ändern nichts.


Es wäre so wichtig, allen Kindern dabei zu helfen, Experten ihrer Selbst zu werden. Zu verstehen, wie sie lernen, warum sie lernen und warum gemeinsames Lernen so wichtig ist. Was lernförderliche Rahmenbedingungen sind, und nein, ein kahler Raum mit 30 Schüler*innen in einem lehrerzentriertem Setting bietet davon kaum etwas. Wir stecken Kinder in Schulen und liefern ihnen Antworten, ohne die Fragen abzuwarten. Was aber Bildung letztendlich ist oder ausmacht, und wie menschliches Lernen bestmöglich und individuell funktioniert, thematisieren wir viel zu selten.


Unser Bildungssystem ist nicht kindgerecht. Es ist exklusiv und nichtmal im Ansatz inklusiv. Es ist in seiner vorherrschenden Form ein Relikt längst vergangener Zeiten. Es bevorteilt diejenigen, die eh im Vorteil sind, und zementiert Nachteile über Generationen hinaus.


Wenn wir ein Bildungssystem wollen, dass allen Kindern gerecht werden kann, müssen wir dafür kämpfen. Für die Überwindung der Klassen und der in Klassen einteilenden Noten. Für eine gemeinsame Schule für Alle. Für projektorientierte Schulformen und Lernbegleitung statt Lehrerzentrierung. Für Vertrauen in die Kraft der Kinder und gegen die straffe und starre Kontrolle von vermeintlichen Lernleistungen. Für Kinder, die Experten ihrer selbst werden. Für Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Gestaltung von Lernsettings. Weg von der Defizitorientierung, endlich. Weg von der Reduktion der Kinder auf verwertbares Humankapital. Und letztendlich für eine politische Wende, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu vermindern, nicht um sie weiter anwachsen zu lassen.
Nicht nur am Tag des Kindes.

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