Teil 2 des Interviews zur Dokumentation „Schule ohne Aussortieren – Wie Menschen aus der Region Bildung neu denken„, viel Spaß beim Lesen! Hier geht´s zum 1. Teil des Interviews.
Vanessa Hartmann:
Bei der U18-Landtagswahl vor kurzem wählten Kinder und Jugendliche in Bayern die AfD zur zweitstärksten Kraft. Hilft da die geplante wöchentliche Verfassungsviertelstunde?
Florian Kohl:
Die Idee dahinter halte ich erstmal für gut. Die Verfassung ist ein tolles Dokument mit vielen wunderbaren Inhalten. Beispielsweise steht in der Verfassung, dass jeder Bewohner Bayerns Anspruch auf eine angemessene Wohnung hat. Da könnten alle viel lernen. Allerdings lernt man Demokratie nicht in einer Viertelstunde, sondern durch Mitbestimmung in der Schule. Außerdem kann nicht jedes gesellschaftliche Problem auf die Schule übertragen werden. Hier ist Politik auch selbst gefordert, und muss in die Analyse gehen, warum die Wahlerfolge der AfD so groß sind. Da gilt es unbedingt verlorenes Vertrauen wiederherzustellen und endlich auch Politik für Kinder zu machen. Schulen, in die jeder erstmal gerne geht, wären da ein Anfang.
Vanessa Hartmann:
6.000 neue Lehrkräfte stehen im Koalitionsvertrag, auf den die neue Kultusministerin beim Thema Lehrkräftemangel verweist. Problem Lehrermangel gelöst?
Florian Kohl:
Wir kennen das. Auf dem Papier sehen Zahlen immer gut aus. Doch woher die Lehrkräfte kommen sollen ist nicht geklärt. Der Fachkräftemangel betrifft nicht nur die Bildung, sondern viele Bereiche. Ich meine, dass man dieses deutschlandweite Problem nur gemeinsam in den Griff kriegen kann. In der Kultusministerkonferenz müssen die Bundesländer gemeinsam Lösungen finden, und sich nicht gegenseitig im Wettbewerb auch noch die wenigen Lehrkräfte offensiv abwerben, wie das Bayern derzeit tut. Da geht es auch um Attraktivität allgemein, der Lehrberuf ist ein traumhafter Beruf, aber eben nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Vanessa Hartmann:
Die GEW hatte sich dem Bündnis Gemeinschaftsschule angeschlossen. Warum wäre es gut, wenn diese zusätzliche Schulart erlaubt würde?
Florian Kohl:
Ich bin der Überzeugung, dass unser Schulsystem nicht inklusiv sein kann, weil der Leistungsbegriff, nach dem wir Kinder beurteilen, bereits ausgrenzend wirkt. Es gibt aber viele Eltern, die das so nicht mehr wollen, die mit dem System hadern – aber da wir alle selbst in der Schule waren und das System nicht anders kennen, gehen wir immer davon aus, dass man „da eben durch muss.“ Kein Land selektiert so früh wie Deutschland – ich meine, dass unser differenziertes Schulsystem auch die Wahlfreiheit bieten muss, das eigene Kind in eine inklusiv arbeitende Gemeinschaftsschule zu schicken, in der alle Kinder gemeinsam lernen. Davor muss ja niemand Angst haben, der so vom viergliedrigen Schulsystem überzeugt ist.
Vanessa Hartmann:
Sie unterrichten an einer Förderschule. Im Förderschulsystem werden die Schüler*innen auch nochmal nach verschiedenen Schwerpunkten selektiert. Können Sie das System bitte kurz erklären und macht diese Differenzierung aus Ihrer Sicht Sinn?
Florian Kohl:
Ich meine, dass die Kompetenzen, die an den Förderschulen vorhanden sind, unglaublich wichtig sind. Die Spezialisierung auf die verschiedenen Förderschwerpunkte, beispielsweise für Blinde und sehbehinderte Kinder, gehörlose Kinder, Körperbehinderte Kinder oder Kinder mit so genannten geistigen Behinderungen, machen durchaus Sinn. Dass Kinder allerdings teilweise stundenlang im Bus sitzen müssen, um diese Kompetenzen nutzen zu können, halte ich für falsch. Die Kompetenzen müssen an die Schulen vor Ort, damit Kinder unabhängig von ihren Bedürfnissen vor Ort lernen können und nicht aus ihrer Gemeinschaft herausgerissen werden.
Vanessa Hartmann:
An den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Emotionale und Soziale Entwicklung gibt es Kritik – Schüler*innen würden zunehmend etikettiert und selektiert, die vor Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention an Regelschulen mitgelaufen wären, das zeigen auch diverse Untersuchungen. Teilen Sie diese Kritik, beziehungsweise wie erleben Sie das?
Florian Kohl:
Wir sind vor Jahren immer davon ausgegangen, dass die Zahl der Kinder an Förderschulen nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention sinken würden. Das Gegenteil ist der Fall. Trotz anderslautender demografischer Prognosen steigt die Zahl in den letzten Jahren wieder, vor allem auch im Bereich geistige Entwicklung. Die Gründe dafür können wir allerdings nicht klar benennen. Was klar ist: Die Grenze zwischen Mittelschule und Förderschule verschwimmt immer mehr, und diesem Problem kann man sich nicht nur schulartspezifisch stellen, es ist ein generelles Problem.
Vanessa Hartmann:
Wie muss man sich das Verfahren bei dieser Etikettierung vorstellen – wer stellt wann den Förderbedarf fest? Wenn einem Kind die Förderschule empfohlen wird, müssen sich Eltern daran halten?
Florian Kohl:
Wenn Kinder auffällig werden, im Kindergarten oder in der Schule, können die mobilen sonderpädagogischen Dienste eingeschaltet werden. Die beobachten, diagnostizieren und erstellen, in Zusammenarbeit mit Eltern, Psychologen und Ärzten, ein sonderpädagogisches Gutachten, in dem der sonderpädagogische Förderbedarf festgestellt wird, der dann zum Besuch einer entsprechenden Förderschule berechtigt. Die Eltern müssen sich aber nicht daranhalten, weil es den Elternwillen gibt, der aber in der Realität nur wenig wert ist.
Vanessa Hartmann:
In Bayern und anderen Bundesländern argumentiert man beim Erhalt und Ausbau der Förderschulen gerne mit Elternwillen und Elternwahlrecht. Wollen die Eltern tatsächlich keine Inklusion? Und wie sieht´s mit den Schüler*innen aus?
Florian Kohl:
Die Schüler sind wohl diejenigen, die am seltensten nach ihrer Meinung gefragt werden. Womit wir wieder beim Problem sind. Ich sags mal so: Kein Kind hat kein Problem damit, wenn es im Kindergarten von Anfang an mit anderen Kindern spielt und da eben auch ein Kind im Rollstuhl dabei ist. Wenn es kleine Kinder gewohnt sind, bereits von Beginn an mit verschiedenen Kindern zusammen zu sein, wird das auch später kein Problem sein. Die Hindernisse beginnen ja dann, wenn auf einmal Eltern das Gefühl bekommen, ihr Kind könnte im Wettbewerb um die guten Noten einen Nachteil haben, weil da das Flüchtlingskind dazu kommt oder der Junge mit Down-Syndrom oder das Kind aus eher schwierigen sozialen Verhältnissen, die den eigenen Nachwuchs vermeintlich bremsen. Davon müssen wir unbedingt wegkommen, und das geht nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen in der Ausgestaltung von Schule und Kita.
Und zum Elternwahlrecht nur ein Wort: Wenn die eine Schule barrierefrei ist, und die andere Schule ist es nicht – wenn die eine Schule kein Personal hat, um die besonderen Bedürfnisse aufzufangen, und die andere hat das nicht – wenn die eine Schule die speziellen Kompetenzen mitbringt, und an der anderen Schule eigentlich nur Skepsis herrscht – was ist dann der Elternwille wert? Gar nichts.
Vanessa Hartmann:
Fehlt den Menschen einfach die Vorstellungskraft, wie ein modernes, zukunftsorientiertes Bildungssystem aussehen könnte?
Florian Kohl:
Ja, das ist wohl leider so. Aber auch da kommt die Bildung ins Spiel. Wo wenn nicht in der Schule haben wir die Möglichkeit, die Kreativität und den unbändigen Antrieb der jungen Menschen zu nutzen? Und das bezieht sich ja nicht nur aufs Bildungssystem, sondern generell auf die Art und Weise, wie wir in der Welt miteinander leben wollen. Da braucht es dringend viel positive Vorstellungskraft und gute Ideen, wie wir das anders regeln können.
Den Film gibt es hier direkt auf Youtube oder auf der Homepage der Medienwerkstatt Franken: